An Oberbürgermeisterin Kalisch prallt SPD-Anfrage zur Pressefreiheit ab – Thema damit dennoch nicht beendet
Lüneburg, 24.08.2024 - Es hätte eine Stern-, zumindest aber Pflichtstunde in Sachen Demokratieverständnis werden können, als am Donnerstag nichts Geringeres als die Pressefreiheit auf der Tagesordnung für die Ratssitzung stand. Doch diese Chance ließen die Ratsmitglieder großenteils kommentarlos passieren. Anlass war eine Anfrage der SPD-Stadtratsfraktion zum Verständnis von Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch (Grüne) im Umgang mit der lokalen Presse. Wegen kritischer Berichterstattung hatte Kalisch scharfe Kritik unter anderem an LGheute geäußert, woraufhin die SPD eine Entschuldigung von ihr einforderte. Bei der Oberbürgermeisterin prallte das ab.
Der ganze Vorgang dauerte keine zwei Minuten. Kaum war Jörg Kohlstedt für die SPD-Stadtratsfraktion ans Rednerpult getreten, um auf die schriftlichen Anfrage-Antworten der Obürgermeisterin einzugehen, wurde er auch schon unwirsch von der Ratsvorsitzenden Jule Grunau (Grüne) ermahnt. Er möge bitte keine Statements abgeben, nur eine Nachfrage sei erlaubt, darauf habe sich der Rat ja schließlich verständigt.
Nach kurzem Protest fügte sich Kohlstedt, wohl wissend, dass er gegen die Ratsvorsitzende letztlich den Kürzeren ziehen würde, schließlich hat der Rat sich die Geschäftsordnung selbst gegeben, an die zu halten Grunau ihn erinnerte. Und so stellte er, nachdem er gewagt hatte, unter dem zürnenden Blick der Ratsvorsitzenden doch noch eine Bemerkung loszuwerden – "Unsere Anfrage bleibt in weiten Teilen unbeantwortet" – dann die eine Nachfrage, die ihm zugebilligt wurde: "Wir akzeptieren Ihre Antworten nicht, wann beantworten Sie ernsthaft unsere Anfrage?"
◼︎ Kalisch wird antworten müssen
Die Angesprochene, Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch, schnappte sich daraufhin das Mikrofon und antwortete hörbar angefasst: "Die Frage ist beantwortet. Wenn Sie neue Informationen haben wollen, dann stellen Sie neue Fragen. Wenn Sie die alten Informationen haben, die alten Fragen stellen, dann beantworte ich sie genau so wieder."
Damit war zwar der Tagesordnungspunkt abgehakt, nicht aber das Thema. Das bleibt der Oberbürgermeisterin weiter erhalten, denn Jörg Kohlstedt will nicht lockerlassen. "Die Niedersächsische Kommunalverfassung sieht vor, dass jedes Ratsmitglied den Chef der Verwaltung jederzeit befragen kann, unabhängig von Ratssitzungen. Und das werde ich tun", erklärte der SPD-Politiker gegenüber LGheute. Dann werde er auch "dezidiertere Fragen" stellen und sich nicht mit einfachen Antworten der Oberbürgermeisterin abspeisen lassen. Die muss dann innerhalb von 14 Tagen antworten.
◼︎ Geschäftsordnung passt nicht
Mit diesem Schritt löst Kohlstedt sich auch von einem Verfahren, das unterm Strich nicht viel Gutes bewirkt. Der Haken an solchen Rats-Anfragen: Die Rathausspitze kann Antworten nach Gutdünken geben, auf die der Fragesteller dann inhaltlich dann gar nicht mehr eingehen kann – wie in diesem Fall geschehen. Wer nur eine einzige Frage auf sechs als unzureichend eingeschätzte Antworten stellen darf, dem sind ohnehin die Hände gebunden. Einziger Vorteil dieses Verfahrens: Die Anfrage steht auf der Tagesordnung, das Thema wird damit öffentlich. Aber auch Antworten auf persönlich gestellte Fragen, wie Jörg Kohlstedt sie jetzt stellen will, fallen nicht zwangsläufig unter den Tisch: Einige Medien in Lüneburg greifen solche Themen gern auf.
Zu dem Ablauf in der Ratssitzung selbst sagte Kohlstedt nur so viel: "Das war erwartungsgemäß" – eine Einschätzung, mit der er sicher nicht allein ist. Denn es war mehr als auffällig, wie sehr sich die Ratsvorsitzende bemühte, die Oberbürgermeisterin aus der Schusslinie zu nehmen – Parteikollegen unter sich.
Auffällig war das Verhalten der Ratsvorsitzenden aber auch deshalb, weil sie durchaus Handlungspielraum hat, wenn es darum geht, die Geschäftsordnung des Rates einzuhalten. Nicht selten und immer dann, wenn es Grunau inhaltlich passt, lässt sie die Zügel schon mal deutlich lockerer als in diesem Fall.
◼︎ Rat abgetaucht
Einen bemerkenswerten Part oder besser Nicht-Part nahm auch der Rest des Rates am Donnerstag ein. Denn er blieb während des gesamten Geschehens mucksmäuschenstill, wohl aus Sorge, sich auch noch einen Rüffel von der gestrengen Vorsitzenden einzufangen.
Spannend und souverän aber wäre es gewesen, wenn wenigstens der eine oder andere, der Oberbürgermeisterin nicht ganz so Nahestehende, vielleicht selbst mal das Wort oder die Initiative ergriffen hätte. Etwa, indem Aussprache in diesem Punkt beantragt worden wäre. Das wäre vermutlich nicht durchgegangen, aber es wäre interessant gewesen zu erfahren, wer da mit Nein gestimmt hätte. Chance vertan, auch Politik will gelernt sein.
◼︎ Was nicht gesagt werden durfte
Und weil es in Lüneburg auch mit Grün-geführtem Rathaus weiterhin eine freie Presse gibt, kommt hier nun das, was Jörg Kohlstedt in der Ratssitzung nicht sagen durfte:
"Sehr geehrte Frau Ratsvorsitzende,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
liebe Demokratinnen und Demokraten,
unsere Anfrage 'Umgang mit Pressefreiheit und Kritik' bleibt in weiten Teilen unbeantwortet. Wir werden uns auch nicht aus irgendwelchen Anlagen irgendwelche markierten Passagen raussuchen. Beantworten Sie unsere Frage zur – aus unserer Sicht – vollkommen unangemessen harschen Kritik am Seniorenbeirat.
Beantworten Sie unsere Frage nach dem Ende des Diskurses bitte nicht selektiv. Denn das kann man im Stream der Ratssitzung vom 30.05.2024 nachhören.
Beantworten Sie bitte auch unsere Frage zu demokratischen Äußerungen des Seniorenbeirats und der Online-Medien. Und hören Sie sich dazu gerne die komplette Debatte noch einmal an.
Auch unsere Frage vier haben Sie bisher nicht ernsthaft beantwortet. Wie also gehen Sie mit Vertretern der Online-Medien um? Und werfen Sie dazu gerne einen Blick in das Niedersächsische Pressegesetz.
Also unsere abschließende Frage: Wir akzeptieren diesen Umgang mit unserer Anfrage nicht. Wir akzeptieren die Antworten nicht. Wann beantworten Sie ernsthaft unsere Anfrage vom 4. Juni 2024?"
Und damit es komplett ist: Die Fragen der SPD-Fraktion und die Antworten der Oberbürgermeisterin können hier nachgelesen werden.
◼︎ Dazu bisher auf LGheute:
- 18.08.2024: Hat das Rathaus ein Problem mit der Pressefreiheit?
- 20.06.2024: Kann das gutgehen?
- 06.06.2024: Annäherung im Ausschuss
- 05.06.2024: Sind Seniorenbeirat und Online-Medien Demokratiefeinde?
- 03.06.2024: Hat das Rathaus wirklich umfassend informiert?
- 31.05.2024: Fragwürdige Auftritte der Stadtverwaltung
- 30.05.2024: "Wenden geht, ist aber nicht praktikabel"
- 29.05.2024: Kritik an geplanter Bussperrung weitet sich aus
- 29.05.2024: Echte Probleme
- 28.05.2024: "Das ist stümperhaft vorbereitet"
- 27.05.2024: Drei Monate kein Busverkehr am Platz Am Sande