Wie Politiker für ihre Ziele tricksen – Eine Analyse am Beispiel der überfälligen Bahn-Erweiterung im Norden
Berlin/Hannover/Lüneburg, 16.08.2024 - Aussagen zu dementieren, die nicht oder nicht so getätigt wurden, gehört zum Alltagsgeschäft eines jeden Politikers. Zum Standardrepertoire gehört auch, Kommentare zu nie gefallenen Aussagen abzugeben – meist, um Konfliktthemen den Drive zu verpassen, der den eigenen Interessen nutzt. Ein Paradebeispiel für diese Art politischer Lösungsfindung erlebt gerade Lüneburg. Anlass sind Bemerkungen von Bundesverkehrsminister Volker Wissing zur geplanten Generalsanierung der vorhandenen Bahnstrecke Hamburg-Hannover. Obwohl er dabei der von ihm favorisierten Neubautrasse entlang der A7 mit keiner Silbe eine Absage erteilte, hinderte dies Politiker mit anderer Interessenlage nicht daran, entsprechendes zu behaupten. Der davon erhoffte Zweck stellte sich ein.
Die Antwort aus der Lüneburger Kreisverwaltung kam prompt. "Fassungslos" habe Landrat Jens Böther auf "Aussagen von Bundesverkehrsminister Wissing reagiert, den Neubau der Bahnstrecke Hamburg-Hannover abzusagen", wie es in der eilig herausgegebenen Pressemitteilung heißt. Und weiter: Wissing betreibe "Flickwerk zu Lasten der Menschen zwischen Hamburg und Hannover". Dabei sei die vorhandene Strecke schon jetzt völlig überlastet und könne keinen zusätzlichen Bahnverkehr bewältigen. Zusätzlich kritisierte Böther, dass die dringend notwendige Sanierung auf das Jahr 2029 verschoben werde. Das sei "ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen, die zur Arbeit nach Hamburg und Hannover pendeln", aber auch für Fernreisende und den Güterverkehr auf der Schiene. Norddeutschland rolle bahnmäßig aufs Abstellgleis.
◼︎ Und plötzlich steht die "Absage" im Raum
Böther reagierte damit offenkundig auf eine Pressemitteilung, die nicht aus dem Hause Wissings, sondern von dessen Amtskollegen in Niedersachsen, Verkehrsminister Olaf Lies, kam. Lies, der bekanntlich kein Freund einer Neubaustrecke, dafür aber Befürworter des Ausbaus der Bestandsstrecke ist, nutzte seinerseits eine dpa-Meldung, in der Wissing sich zu der geplanten Generalsanierung der völlig überlasteten Strecke äußerte. Darin erwähnte der Bundesverkehrsminister zwar die Verschiebung der Generalsanierung der Bestandsstrecke von 2026 auf 2029, von einem Ende der Neubaupläne aber sagte Wissing nichts.
In der Pressemitteilung von Olaf Lies klingt das anders. Dort heißt es, Lies begrüße die Aussagen von Bundesverkehrsminister Volker Wissing zur Generalsanierung Hannover-Hamburg "und seine Absage an eine Neubaustrecke".
Was Lies zu dieser Aussage veranlasste, wurde nicht mitgeteilt, er ging im Folgenden selbst auch gar nicht weiter darauf ein. Doch darauf kam es dem Landesverkehrsminister vermutlich auch gar nicht an. Ihm reichte offenbar allein die kurze Erwähnung des Reizwortes "Absage", um den gewünschten Effekt auszulösen. Denn die angebliche Absage war damit in der Welt, Gegner wie Befürworter eines Ausbaus der Bestandsstrecke meldeten sich zu Wort.
Jubel kam unter anderem vom Landrat des Landkreises Harburg, Empörung außer von Böther auch, mit einem Tag Verspätung, von Lüneburgs Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch. Anders als Böther aber bemängelt sie lediglich, dass Wissing den Neubau der Bahnstrecke "nicht klar benennt". Dies sei "unverantwortlich und nicht nachvollziehbar". Denn längst sei klar, dass künftige Verkehrsbedarfe nur mit einer Neubaustrecke bewältigt werden könnten, so Kalisch. Neue Arbeitsgruppen einzurichten, wie Wissing empfahl, nannte sie "ein Spiel auf Zeit", das zu Lasten der Pendler gehe.
◼︎ Verschiebung ist längst bekannt
Als einen "weiteren Schlag ins Gesicht" empfindet die Lüneburger Rathausspitze auch die Verschiebung der Generalsanierung auf 2029. "Das ist schon erstaunlich, denn bisher hieß es immer, dass die Infrastruktur in Teilen so marode ist, dass eine Ertüchtigung 2026 zwingend erforderlich ist", sagt Lüneburgs Erster Stadtrat und Verkehrsdezernent Markus Moßmann.
Warum Lüneburgs Erster Stadtrat sich über die Verschiebung erstaunt zeigt, ist rätselhaft, denn sie ist bereits seit September letzten Jahres bekannt. Wie berichtet, hatte der damalige Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, Michael Theurer, die Verschiebung angekündigt, um den Ausbau der Bestandsstrecke im Zuge der Generalsanierung und Weiterplanung der Neubaustrecke zeitlich sinnvoll miteinander zu verzahnen. Moßmanns Chefin Kalisch hatte damals dazu gesagt: "Die Verschiebung der Generalsanierung um drei Jahre bedeutet eine noch längere Wartezeit auf lang ersehnte Verbesserungen."
Auch Landrat Böther ist die Verschiebung seitdem bekannt. Er kritisierte sie mit diesen Worten: "Unsere Pendlerinnen und Pendler zwischen Lüneburg, Hamburg und Hannover leiden seit Jahren unter den Zuständen auf dieser verstopften Strecke. Nun soll auch noch die Generalsanierung um Jahre verschoben werden."
Nun kann Böther und Kalisch nicht vorgeworfen werden, nicht immer wieder für den Neubau und gegen den Ausbau einzutreten. Letzteres wäre gerade für Lüneburg kaum vorstellbar, auch eine ortsnahe Umgehung nicht. Den vierspurigen Ausbau der Bestandsstrecke hatte die Bahn in mehreren Untersuchungen ohnehin längst als nicht realisierbar ausgeschlossen, gleichwohl aber die Generalsanierung der Strecke versprochen – in Verbindung mit einer Neubaustrecke. Warum beide Hauptverwaltungsbeamten wegen der Verschiebung nun aus allen Wolken zu fallen scheinen, ist unverständlich, hilft aber vielleicht, ihr bisheriges Schweigen dazu zu übertönen.
◼︎ Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an
Zurück zur Gegenwart und ins Bundesverkehrsministerium. Auch hier weiß man um die Kraft der Worte, auch um die, die nicht gesagt werden. Davon machte Wissing in dem dpa-Gespräch Gebrauch. Dabei erwähnte er die Neubaustrecke zwar mit keinem Wort, eine Absage erteilte er ihr dennoch nicht. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Im kommenden Jahr ist Bundestagswahl, und eine vorherige Festlegung könnte sich für die ministeriellen Ziele als unklug erweisen. Denn nicht Wissing, sondern das Parlament allein entscheidet – nach entsprechend politischer Vorarbeit in den Gremien und Ausschüssen –, ob eine neue Trasse kommt oder nicht.
Die Parlamentarier sind daher froh, nicht noch vor der anstehenden Wahl Position für oder gegen den nicht überall willkommenen Neubau beziehen zu müssen, auch wenn dies gelegentlich anders daherkommt wie mit Lars Klingbeil. Der aus Munster kommende SPD-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete lehnt, weil sein Wahlkreis betroffen wäre, einen Neubau ab. Noch. Ob er diese Meinung angesichts der dringend benötigten zusätzlichen Schienenkapazitäten auf diesem Bahn-Korridor auch nach der Wahl noch vertritt, bleibt abzuwarten. Denn irgendwann muss auch die SPD sich den Herausforderungen der Zukunft stellen.
◼︎ Der Original-Wortlaut
Das Stimmengewirr aus den parteipolitischen Schützengräben nimmt daher mit dem Näherrücken einer Wahl proportional zu. Wer sich dennoch ein genaues Bild der Lage verschaffen will, kommt daher nicht umhin, sich dem Original selbst zuzuwenden statt Kommentare anderer zu kommentieren. Was aber sagte Wissing eigentlich genau? Hier der Original-Wortlaut des dpa-Gesprächs, der LGheute vorliegt:
"Mit der anstehenden Generalsanierung der Strecke Hamburg - Hannover bietet sich die einmalige Chance, auch die Leistungsfähigkeit der Strecke sowie der Knoten in Lüneburg und Uelzen deutlich zu erhöhen. Wir haben uns mit dem niedersächsischen Verkehrsminister Olaf Lies und dem DB-Vorstand Berthold Huber auf eine Verschiebung der Generalsanierung von 2026 auf 2029 verständigt, um dadurch in einer erweiterten Generalsanierung kurzfristig so viel wie möglich vom Konzept des 'optimierten Alpha-E' realisieren zu können. Parallel dazu wollen wir in Arbeitsgruppen gemeinsam mit der Region Lösungen für den langfristigen Kapazitätsbedarf zwischen Hamburg und Hannover entwickeln. Grundlage dafür wird die derzeit in Erarbeitung befindliche Verkehrsprognose 2040 sein. Damit verwirklichen wir den Auftrag Bundestages, die Strecke im Sinne des Deutschlandtakts auszubauen und gleichzeitig die Belange der Region zu berücksichtigen."
Wie dies einzuordnen ist, machte ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums deutlich: Danach sollen die zusätzlichen Kapazitäten auf dem Korridor Hamburg-Hannover in zwei Stufen geschaffen werden. Die Generalsanierung diene dazu, die bestehende Infrastruktur kurzfristig auf den aktuellen Stand der Technik bringen. "Entscheidend", so der Sprecher gegenüber LGheute weiter, "ist aber die Frage der künftig nötigen Kapazität, um die ambitionierten Verlagerungs- und Klimaschutzziele zu erreichen. Antworten darauf sollen im Dialog mit Land, Kommunen und Bürgern erarbeitet werden."
Mit anderen Worten: Der Kampf um die Deutungshoheit in Sachen Neubaustrecke dürfte wohl noch eine Weile andauern.