Die oft langen Debatten im Rat der Stadt sind kontraproduktiv und lähmen die Verwaltung. Und es könnte noch schlimmer kommen
Lüneburg, 15.11.2021 - Anderthalb Stunden Redezeit für einen einzigen Tagesordnungspunkt im Rat der Stadt? Kein Problem. Die Geschäftsordnung des Rates gibt das her, und die Ratsmitglieder machen davon auch ausgiebig Gebrauch. Die Folge: immer mehr unerledigte Punkte auf der Tagesordnung. Das dürfte mit künftig acht im neuen Rat vertretenen Parteien noch zunehmen – es sei denn, die Ratsmitglieder beschränken sich in ihrem Redeschwall. Ob das aber kommt, ist noch offen, wie eine Abfrage bei den Fraktionsvorsitzenden zeigt.
Wenn in der Ratssitzung sich ein Ratsmitglied zu einem Tagesordnungspunkt (TOP) äußern will, läuft die Uhr. Der oder die Ratsvorsitzende ist gehalten, genau darauf zu achten, dass die in der Geschäftsordnung vorgesehenen Redezeiten eingehalten werden. "Bitte kommen Sie zum Schluss" oder "Ihre Redezeit ist zuende" heißt es dann, wenn die Redezeit abläuft oder abgelaufen ist. Und die ist üppig bemessen.
Die allgemeine Redezeit der Fraktionen oder Gruppen pro Tagesordnungspunkt ist in Paragraph 15 der Geschäftsordnung des Rates festgelegt und gliedert sich wie folgt:
- Redezeit von Zusammenschlüssen mit einer Mitgliederzahl von 2 bis 4: 8 Minuten
- Redezeit von Zusammenschlüssen mit einer Mitgliederzahl von 5 bis 8: 12 Minuten
- Redezeit von Zusammenschlüssen mit einer Mitgliederzahl von 9 bis 12: 16 Minuten
- Redezeit von Zusammenschlüssen mit einer Mitgliederzahl von 13 bis 18: 21 Minuten
- Redezeit von Zusammenschlüssen mit einer Mitgliederzahl von 18 bis 25: 26 Minuten
- Redezeit von Zusammenschlüssen mit einer Mitgliederzahl von 26 oder mehr: 30 Minuten.
Die Redezeit des einzelnen Ratsmitgliedes soll laut Geschäftsordnung hierbei 5 Minuten nicht überschreiten. Die Redezeit zusammenschlussloser Ratsmitglieder ist ebenfalls auf 5 Minuten beschränkt.
Hinzu kommt, dass der Oberbürgermeister – oder nun die Oberbürgermeisterin – und die Dezernenten auf ihr Verlangen ebenfalls sprechen dürfen. Ohne Redezeitbegrenzung.
Jedes Ratsmitglied darf zu einer Sache nur einmal sprechen. Ausgenommen hiervon sind:
- Schlusswort des Antragstellers, unmittelbar vor der Abstimmung
- Richtigstellung offensichtlicher Missverständnisse
- Wortmeldungen des Oberbürgermeisters
- Anfragen zur Klärung von Zweifelsfragen
- Anträge zur Geschäftsordnung
Und: Die Vorsitzenden der Fraktionen oder Sprecher der Gruppen können zweimal zur Sache sprechen.
◼︎ Bislang 93 Minuten Redezeit pro TOP möglich
Am Beispiel eines einzigen Tagesordnungspunkts wird deutlich, welche Redezeiten in den künftigen Ratssitzungen zusammenkommen können, sollte die bisherigen Geschäftsordnung beibehalten werden:
- Grüne-Fraktion (15 Mitglieder): 21 Minuten
- SPD-Fraktion (11 Mitglieder): 16 Minuten
- CDU-Fraktion (8 Mitglieder): 12 Minuten
- FDP-Fraktion (3 Mitglieder): 8 Minuten
- Linke-Fraktion (3 Mitglieder): 8 Minuten
- AfD-Fraktion (2 Mitglieder): 8 Minuten
- Die Basis (1 Mitglied): 5 Minuten
- Die Partei (1 Mitglied): 5 Minuten
- Oberbürgermeister: 5 Minuten (variabel)
- Dezernent: 5 Minuten (variabel)
Zulässige Gesamtredezeit pro Tagesordnungspunkt: 93 Minuten!
Doch damit nicht genug. In Haushaltsdebatten stehen dem ersten Redner einer Fraktion oder Gruppe bis zu 20 Minuten zur Verfügung. Für zusammenschlusslose Ratsmitglieder gilt diese Regelung entsprechend. Auch können nach Abschluss eines Tagesordnungspunkts noch persönliche Erklärungen abgegeben werden.
Zwar werden die zulässigen Gesamtredezeiten in der Regel nicht komplett ausgenutzt, der Rückblick auf die letzte Wahlperiode zeigt aber, dass gern viel und ausdauernd debattiert wird – auch bei Resolutionen, bei denen die Stadt noch nicht einmal Beschlusshoheit hat.
◼︎ Das sagen die Fraktionen
Den Fraktionen ist das Redezeitproblem seit langem bekannt. Viele Ratsmitglieder beklagten die viel zu langen Debatten, ihr Verhalten oder die Geschäftsordnung änderten sie bislang aber nicht. Und sie tun sich offenkundig schwer damit, hier Abstriche vornehmen zu wollen, wie die Antworten auf eine LGheute-Abfrage bei den Fraktionsvorsitzenden und Einzelkämpfern des künftigen Rats zeigt. Hier die Antworten:
Ulrich Blanck (Grüne): "Zu der von Ihnen gestellten Frage finden derzeit im Rahmen der Diskussion der Geschäftsordnung noch Gespräche zwischen den Fraktionen statt. Den Ergebnissen der Gespräche möchte ich hier nicht vorgreifen."
Andrea Schröder-Ehlers (SPD): "Die von Ihnen gegebenen Hinweise sind zutreffend. Darum besprechen wir gerade Lösungsansätze mit den anderen Fraktionen. Eine Änderung der verschiedenen Regelungen ist zum Ende des Jahres geplant."
Monika Scherf (CDU): "In der Tat waren in der Vergangenheit einige Debatten im Stadtrat sehr ausufernd und der Sache nicht unbedingt dienlich. Es war für viele der Beteiligten und für die Zuhörerschaft nicht angenehm, sehr zeitraubend und dadurch wenig zielführend. Für eine gute Arbeit im Rat wäre es wichtig, dass es hier zu einer anderen Diskussionskultur kommt. Das ist allerdings nicht vorrangig eine Frage der Geschäftsordnung, sondern eine Frage des Umgangs und des gegenseitigen Respekts im Rat. Ich bin zuversichtlich, dass genau das sich verändern wird, und im übrigen sind die Fraktionsvorsitzenden im Gespräch, was Änderungen der Geschäftsordnung angeht. Doch zunächst muss sich der Rat konstituieren, erst danach kann eine neue Geschäftsordnung beraten werden."
Frank Soldan (FDP): "Auch ich bin der Meinung, dass über Anträge und auch Verwaltungsvorlagen zeitnah entschieden werden muss. Wichtig ist aber auch, dass jede Fraktion und auch jedes fraktionslose Ratsmitglied zu jedem Tagesordnungspunkt zu Wort kommen können muss. Daher halte ich die Begrenzung der Redezeit pro Tagesordnungspunkt für nicht gut.
Wir möchten – so, wie es bisher auch war – die Redezeit je Fraktion (und fraktionslosem Ratsmitglied) begrenzen. Dabei wollen wir unter der jetzt in der Geschäftsordnung festgelegten Zeit bleiben. Das Problem, dass wir die auf der Tagesordnung stehenden Punkte in einer Sitzung nicht abgearbeitet bekommen, liegt aber nicht an der langen Redezeit, sondern an der Länge der Tagesordnung – wobei jedes Ratsmitglied das Recht hat, Anträge und Anfragen zu stellen, die bei fristgerechtem Eingang auch auf die Tagesordnung genommen werden müssen – und der Begrenzung der Dauer einer Ratssitzung.
Eine Begrenzung der Sitzungsdauer halte ich für gut – ob sie länger als drei Stunden dauern darf, müssen wir diskutieren. Zum Ende der Sitzung sollte der Rat dann darüber beschließen, ob zwei Wochen später eine zusätzliche Sitzung eingeschoben werden soll. Zwar lädt laut Geschäftsordnung die Oberbürgermeisterin im Benehmen mit der Vorsitzenden den Rat ein, aber der Rat muss auch tagen, wenn ein Drittel der Ratsmitglieder das fordert.
Wir werden sicher bei der Formulierung der neuen Geschäftsordnung über diese drei Punkte – Redezeit, Dauer der Sitzung, zusätzliche Ratssitzung –diskutieren.
Robin Gaberle (AfD): "Eine Begrenzung der Redezeit begrüßen wir sehr. Zunächst muss man schauen, ob der entsprechend zu behandelnde Tagesordnungspunkt bereits in vorherigen Ausschüssen behandelt wurde oder quasi 'jungfräulich' ist. Wenn der TOP bereits in anderen Gremien behandelt wurde, dann sollte eine massive Redezeitbegrenzung des TOPs stattfinden – meinetwegen eine halbe Stunde, die dann je nach Proporz auf die Fraktionen aufgeteilt werden würde. Bei TOPs, die vorher noch nicht behandelt wurden, würden wir die Redezeit auf 60 Minuten begrenzen.
Ein anderer Vorschlag wäre, die Redezeit analog wie im Landtag als Kontingent an jede Fraktion auszugeben, die dann selber entscheiden, wie sie ihre Redezeitanteile auf die jeweiligen TOPs aufteilen. Dies würde aber mehr Bürokratie hervorrufen, weil im Vorfelde einer Sitzung die entsprechenden Redezeiten von der Verwaltung verarbeitet und für die Sitzung vorbereitet werden müssten."
Sören Köppen (Die Basis): "Dass die Debatten in der Vergangenheit teils ausgeufert sein sollen, ist mir auch zu Ohren gekommen. Da nun in dieser neuen Legislaturperiode alle Besserung loben, gehen wir erstmal vom Besten aus. Aus meiner Sicht sind wir gerade jetzt in einer Zeit, in der viele Entscheidungen eben keinen Aufschub mehr dulden, bin mir aber sicher, dass sich alle dieser Verantwortung bewusst sind."
Lukas Bieber (Die Partei): "Nachdem in der Vergangenheit im Stadtrat häufig nach dem Motto 'lange Reden, kurzer Sinn' verfahren worden ist, fordert die sehr gute Partei Die Partei die sofortige Begrenzung der Redezeit von Ratsmitgliedern auf 0 Minuten. Erreicht wird dadurch der Abbau der Flut an nicht bearbeiteten Beschlussvorlagen sowie eine starke Verkürzung der Sitzungsdauer mit damit einhergehender Heizkostenersparnis und Verbesserung der Work-Life-Balance für die Ratsmitglieder*innen."
Die Fraktionsvorsitzende der Linken hat sich nicht geäußert.