Lüneburgs Oberbürgermeisterin überrascht mit einem Appell für Meinungsvielfalt
Lüneburg, 05.02.2022 - Für Verblüffung sorgte Lüneburgs Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch in der Ratssitzung am vergangenen Donnerstag. Mit einem unerwarteten, dafür aber betont empathischen Appell warb sie für mehr Gesprächsbereitschaft und "Zuhören" in der aktuellen Corona-Situation. Diese sei "angespannt, die Nerven liegen vielfach blank", sagte Kalisch. Gemeint haben dürfte sie damit die Woche für Woche in Lüneburg stattfindenen Montagsdemonstrationen, bei denen sich zuletzt zwei Lager gegenüber standen. Dass die Oberbürgermeisterin das Thema anspricht, ist richtig. Doch ist die Situation tatsächlich so dramatisch?
Dass Menschen auf die Straße gehen und ihre Meinung äußern, weil sie mit irgendetwas nicht einverstanden sind, gehört zu den Grundrechten in diesem Land. Dass es zu einer Meinung auch eine Gegenmeinung gibt, ist die Regel. Auch die darf geäußert werden. Gelegentlich finden dann auch Gegendemonstrationen statt, gern zur selben Zeit.
In Lüneburg ist es anders. Seit Kurzem kommen Lüneburger montags abends zu einer Demonstration zusammen, um gegen eine zeitgleich stattfindende Demonstration zu demonstrieren, bei der gegen Corona-Maßnahmen demonstriert wird. Die Gegendemonstranten, genauer gesagt der Initiator der Gegendemonstration, DGB-Regionsgeschäftsführer Matthias Richter-Steinke, begründet seine Gegendemonstration damit, dass "eine Grenze überschritten" sei, weil sich unter den Teilnehmern der anderen Demonstration "augenscheinlich rechts gerichtete Menschen" befänden, wie er in der "Landeszeitung" zitiert wird. Damit sei eine "Grenze überschritten", wird Richter-Steinke weiter zitiert.
Das ist bemerkenswert. In Lüneburg bestimmt also ein DGB-Regionsgeschäftsführer, wer demonstrieren darf?
In diese Gemengelage hat sich nun Claudia Kalisch mit ihrem Appell eingebracht. Dabei geht sie behutsam vor, fast zu behutsam, denn man muss die Zeilen genau lesen, um zu sehen, wen sie vor allem anspricht: Nämlich diejenigen, die offenkundig meinen, das Demonstrationsrecht gelte nur für Gleichgesinnte. So sagt sie es zwar nicht, wohl aber, dass es uns nicht weiterbringe, "wenn wir Menschen, die eine andere Meinung haben, an den Rand der Gesellschaft drängen und sie dann auch noch an den rechten Rand verlieren". Dass sie dabei nicht vergisst, hervorzuheben, dass "Neonazis keinen Platz in unserer Gesellschaft haben", ist klug – andernfalls könnte der DGB-Regionsgeschäftsführer womöglich noch auf den Gedanken kommen, die grüne Oberbürgermeisterin hänge rechtem Gedankengut an.
Dass Kalisch sich gegen ein Schwarz-Weiß-Denken ausspricht – "neben Schwarz und Weiß gibt es auch Meinungen dazwischen" – und sich nicht von Forderungen aus der Gegendemonstrationsbewegung des DGB-Regionsgeschäftsführers beeindrucken lässt, spricht für sie. Dass sie das Thema aber als Anlass nimmt, einen fast dramatisch zu nennenden Appell an die Stadtgesellschaft zu richten, scheint mit Blick auf die Realität dann doch überzogen. Lediglich 130 Demonstranten waren in Lüneburg zuletzt gegen Corona-Maßnahmen auf die Straße gegangen, allerdings 350 auf der Gegenseite. Ausfälle wie brennende Autos oder Angriffe gegen Polizisten, wie man sie in Berlin-Kreuzberg stets am 1. Mai von linken Gruppierungen gewohnt ist, blieben in Lüneburg bislang aus. Lediglich einer von ihnen wurde jüngst von der Polizei von der Veranstaltung ausgeschlossen. Er oder sie hatte keine Maske aufgesetzt.
Der Appell von Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch im Original-Wortlaut:
"Liebe Ratsmitglieder, liebe Ratsvorsitzende, liebe Gäste. Ich möchte diesen Tagesordnungspunkt zum Anlass nehmen, um hier nochmal eine Bitte zu platzieren. Wir hören hier im Rat regelmäßig zu der aktuellen Situation, zu Corona. Das ist wichtig. Und ich möchte auch berichten, dass mich täglich Zuschriften erreichen mit vielen Fragen von Menschen in dieser Stadt. Menschen, die besorgt sind. Die zum Teil verzweifelt sind. Die Dinge nicht mehr nachvollziehen können. Die verunsichert sind und vielleicht einfach auch nur Informationen brauchen.
Dabei ist es wichtig, dass wir offen reden – dass wir sagen, was richtig und wichtig ist. Und dass wir aber auch darüber sprechen: Was läuft gut und was könnte besser laufen? Und was können wir alle zusammen vielleicht auch noch besser machen?
Und ich sehe: Die Situation ist angespannt – die Nerven liegen vielfach blank. Das verschlimmern wir aber nur, wenn wir nun beginnen, nur noch in Schubladen zu denken und die Menschen kategorisch abzustempeln und Meinungen, was ist richtig und was ist falsch. Unsere Demokratie muss gerade viel aushalten – aber das kann sie auch – vor allem, weil wir eine vielfältige Gesellschaft sind. Denn neben Schwarz und Weiß gibt es auch Meinungen dazwischen.
Ich stehe hinter der Umsetzung der Corona-Maßnahmen. Sie sind richtig. Ich bin geimpft und geboostert und werbe dafür, dass möglichst alle Lüneburger:innen das genauso tun. Zu ihrem Schutz und zum Schutz unserer Gesellschaft. Und ich stehe für klare Kante gegen Rechts. Neonazis haben keinen Platz in unserer Gesellschaft! Zugleich bringt es uns nicht weiter, wenn wir Menschen, die eine andere Meinung haben, an den Rand der Gesellschaft drängen und sie dann auch noch an den rechten Rand verlieren.
Daher meine Bitte: Lassen Sie uns mit allen, die unsere demokratischen Werte teilen, gesprächsbereit bleiben. Denn manches Vor-Urteil erweist sich als genau das: ein vorschnell gefälltes Urteil. Lassen Sie uns zuhören, Informationen geben und Argumente austauschen. Gegenseitiges Anschreien und Vorwürfe helfen uns doch nicht weiter. Wir brauchen gerade jetzt – mehr denn je – den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Durch Zuhören.
Deswegen stehe ich hier mit einer Bitte, von der ich hoffe und denke, dass Sie dies auch teilen. Lassen Sie uns das gemeinsam leben und weitertragen! Für unsere Stadt – für uns alle."