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Ratlos in den Bürgerrat

Lüneburg soll ein politisches Gremium bekommen mit Menschen, die sich nicht für Politik interessieren

Das Rathaus in Lüneburg. Foto: LGheuteLüneburg, 07.11.2023 - Düstere Zeiten: Man müsse das Vertrauen in die Politik zurückgewinnen, sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) mit Blick auf die aktuelle Stimmungslage in Deutschland. So jedenfalls steht es in einer Vorlage der Stadtverwaltung Lüneburg, mit der morgen die Einrichtung eines Bürgerrats – oder nach Rathaus-Sprech: Bürger:innenrats – auf den Weg gebracht werden soll. Er soll willkürlich aus der Bürgerschaft zusammengestellt werden und Empfehlungen abgeben. Warum dies zu mehr Vertrauen in die Politik führen soll, bleibt unklar.

In der Politik herrscht Panik, landauf, landab. Grund ist der seit Monaten anhaltende Aufschwung der AfD in der Wählergunst, unter dem vor allem SPD, Grüne und FDP leiden. Doch wie lässt sich dieser stoppen? Erkennbar ratlos stehen die sich selbst so nennenden "demokratischen Parteien" vor dem Scherbenhaufen, den sie selbst angerichtet haben. Denn mit dem weiteren Zustrom von Flüchtlingen wächst die Zahl derer, die ihr Kreuz auf dem Wahlzettel lieber woanders machen.

Dass Bundestagspräsidentin Bas inzwischen erkannt hat, dass Vertrauen in die Politik verloren gegangen ist – jedenfalls in die Parteien, die bislang die Geschicke des Landes gelenkt haben –, ist ein erster Schritt. Was aber ein Bürgerrat dabei bewirken soll, ist rätselhaft.

◼︎ Chancengerechtigkeit durch Zufallsauswahl?

In der Vorlage zu diesem Tagesordnungspunkt für die morgige Ratssitzung in Lüneburg jedenfalls heißt es, dass mit der Zufallsauswahl der für den Bürgerrat vorgesehenen Personen "eine gewisse Chancengerechtigkeit für alle Bürger:innen" ermöglicht werde und "Menschen beteiligt werden, die sich sonst nicht in politische Prozesse einbringen". Was Würfeln mit Chancengerechtigkeit zu tun hat und woher das Rathaus, von dem die Vorlage stammt, wissen will, dass die ausgewählten Personen sich nicht in politische Prozesse einbringen, ist rätselhaft. Werden die per Zufallsprinzip Ausgewählten etwa vorab danach befragt, wie intensiv sie sich bislang in politische Prozesse eingebracht haben?

Und überhaupt: Ist nicht seit 2015 eine erkennbare Zunahme vieler Bürger am politischen Geschehen festzustellen? Von Politikverdrossenheit, die zuvor stets beklagt wurde, ist seitdem eigentlich nicht mehr viel zu spüren, im Gegenteil. Allenfalls Verdrossenheit über das Agieren der "demokratischen Parteien", die das Flüchtlingsproblem nicht in den Griff bekommen, wie die Wahlergebnisse regelmäßig zeigen.

◼︎ Ergebnisse sind nicht verpflichtend

Zurück zum Bürgerrat: Dieser soll "bewusst" nicht aus Gruppen- bzw. Interessensvertretern bestehen. "Hier begegnen sich Menschen, die sonst idR. nicht in den Austausch miteinander gehen." Aha. Werden also bewusst Menschen in den Bürgerrat geholt, die null Bock auf Politik haben?

Weiter heißt es in der Vorlage: Ein Bürgerrat tagt auf bestimmte Dauer, für jede neue Fragestellung wird ein neuer Rat einberufen. Im Ergebnis steht ein Bürgergutachten, das dem Rat als Empfehlung vorgelegt wird. Das Ergebnis des Gutachtens ist nicht verpflichtend, entfaltet keine Rechtsbindung.

Fragt sich also: Wozu das Ganze? Dazu die Vorlage: "Abgesehen von den inhaltlichen Empfehlungen durch den Bürger:innenrat führt Bürger:innenbeteiligung (für die Bürger:innenräte nur ein Beispiel sind), zu mehr Verständnis der Bürger:innen für Politik und Verwaltungshandeln. Über die Teilnahme bzw. die öffentliche Begleitung von Bürger:innenräten wird ein Eindruck von der Komplexität der Themen und politischen Entscheidungen vermittelt."

Wäre es stattdessen nicht klüger, die eigene Politik zu ändern, statt ein Gremium einzurichten, das zum einen keine demokratische Legitimation und zudem auch keine Entscheidungsmöglichkeit hat? 

Der Tagesordnungspunkt wird morgen, Mittwoch, 8. November, in der Ratssitzung behandelt. Sie beginnt um 17 Uhr im Kulturforum in Gut Wienebüttel.

 

 

Kommentare  
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat heute in einer Erklärung zum 85. Jahrestag der nationalsozialistischen Pogromnacht zu einem entschiedenen Eintreten gegen Antisemitismus in Deutschland aufgerufen. Juden müssten sich in Deutschland sicher fühlen können. Dazu gehöre auch, dass Israelkritik nicht als Vorwand für Hass missbraucht werde. Das ist richtig! Und genauso deutlich, meine ich, muss in Deutschland gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus eingetreten werden. Kritik an einer Maßnahme der Lüneburger Kommunalvertretung darf nicht als an den Haaren herbeigezerrter Vorwand zum Schüren von Vorurteilen gegenüber Asylsuchenden und Migranten missbraucht werden!
Die AfD als Gesamtpartei wird vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus eingestuft. Das Verwaltungsgericht Köln hat am 8. März 2022 die Einstufung der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) und der Jugendorganisation „Junge Alternative für Deutschland“ (JA) als Beobachtungsobjekt (Verdachtsfall) bestätigt. Im Juni 2022 isz die AfD in Niedersachsens Verfassungsschutzbericht als Verdachtsobjekt eingestuft worden. Die Thüringer AfD wurde im März 2021, also vor mehr als zwei Jahren, als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Nun meldete die LZ gestern Abend: "In Sachsen-Anhalt stuft der Verfassungsschutz den Landesverband der 'Alternative für Deutschland' (AfD) als gesichert rechtsextremistische Organisation ein. Das teilt Behördenleiter Jochen Hollmann auf Nachfrage mit." Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 07.11.2023, 20:33 Uhr
Bürgerräte sind demokratische Praxis in vielen Staaten der Welt. Sie werden von Europarat und OECD ebenso empfohlen wie von Konrad-Adenauer-Stiftung und Friedrich-Ebert-Stiftung. Von der lokalen bis zur globalen Ebene haben in den vergangenen Jahren bereits mehr als 2.000 Verfahren stattgefunden. Davon in Deutschland rund 200. Lüneburg ist nur eine von vielen Städten, die Bürgerräte zur Verbesserung ihrer Demokratie nutzen wollen. Info: http://www.buergerrat.de
- Die Idee finde ich gar nicht schlecht. Die Einordnung der Maßnahme unter politische Bildung wäre vielleicht richtig. - Womit der Text irritiert, ist die wiederholte Verknüpfung der postulierten politischen Krise mit dem Flüchtlingszustrom und mit nichts anderem sonst.
Was hat ein Bürgerrat, den es in ca. 90 Prozent der rund 3.200 Städte und Gemeinden in Deutschland bereits gibt, und deren Mitglieder, die nicht "willkürlich aus der Bürgerschaft zusammengestellt", sondern per Losverfahren ermittelt und um ihr freiwilliges Mitmachen gebeten werden mit den Neonationalprimitivisten (AfD) und deren widerlicher Migranten-Hetze zu tun? Korrekt müsste es wohl heißen: "Aus Lüneburger Redaktionsstuben wird Panik geschürt, landkreisauf, landkreisab. Ratlos stehen die Mitglieder 'demokratischer Parteien' vor dem Scherbenhaufen, den aktive und ehemals aktive städtische, von sternsche 'Journalisten' angerichtet haben." Denn mit jedem weiteren Zustrom von AfD-Juchhei-Schreihälsen wächst die Zahl derer, die ihr Kreuz auf dem Wahlzettel lieber woanders machen.
Die beabsichtigte Einrichtung eines Bürgerrates hat überhaupt gar nichts „mit dem weiteren Zustrom von Flüchtlingen“ zu tun. Das zu insinuieren, gleicht dem Weiterreichen von Gift zur Leserverdummung, einem Handeln, das sich nach der Redlichkeit seiner Motive fragen lassen muss. In einem bisher von der Landeszeitung nicht veröffentlichten Leserbrief, der einen anderen Zusammenhang betrifft, schrieb Herr Wolf von Nordheim am 28. Juli 2023 unter anderem: "Ständig wiederholte Falschbehauptungen können demokratieschädigend zu korrekten Informationen mutieren, wenn nicht deutlich widersprochen wird." -- Wer wollte ihm da widersprechen?
Per Losverfahren ist nur eine Spielart von Willkür, da keine echte Beteiligung relevanter Gruppen
FALSCH: Losergebnisse beruhen auf dem Zufallsprinzip und folglich überhaupt n i c h t auf „Willkür“. Die würde es gerade geben, wenn das schwammige Kriterium „echte Beteiligung relevanter Gruppen“ in Anschlag gebracht würde. Wer bestimmt denn dann, was „echt“ und was „relevant“ ist? Diejenigen, die am lautesten kreischen? Die, die „Volk“ brüllen, aber immer nur sich selbst damit meinen?
Relevante Gruppen sind in Bürgerräten als Experten präsent, die die Teilnehmer mit Informationen zum jeweiligen Bürgerrat-Thema versorgen. Info: www.buergerrat.de
Die Idee ist von der sog. Letzten Generation geklaut, was sie nicht besser macht, aber zeigt wes Geistes Kind die Oberbürgermeisterin ist
Das ist nicht richtig. Die Idee der Losdemokratie ist bereits 2.500 Jahre alt. Entwickelt im antiken Athen und dort mehr als hundert Jahre lebendig praktiziert. In Deutschland gibt es losdemokratische Verfahren bereits seit 1976. Hier haben inzwischen rund 200 Verfahrne auf allen Ebenen stattgefunden. Weltweit ist die Zahl vierstellig. Es hat also die Letzte Generation die Idee anderer aufgegriffen, nicht umgekehrt.
Wie wollen Sie, wenn Sie nicht losen, die Gelosten fragen und ihn/sie bei Einverständnis mitmachen lassen, sonst unter knapp 80.000 Einwohnern acht Bürgerbeiräte (vier Räte plus deren vier Stellvertreter) finden, OHNE dass sofort ein misstrauischer Mauler um die Ecke gebogen kommt und behauptet, „die da oben“ würden in einem Fake-Verfahren ihre Buddies und Liebediener „das Volk“ markieren lassen? —— Man kann wirklich ALLES schlechtreden!
Wie wäre es das ganze analog zu anderen Gremien wie dem Seniorenbeirat machen: kandidieren lassen nach relevanten Gruppierungen und zur Wahl stellen
Seniorenbeirat, Behindertenbeirat, Innenstadt-Beirat, Ausländer- oder Integrationsbeirat, Arena-Beirat, NUMP-Beirat etc. sind temporäre aufgabenbezogene Einrichtungen. Sie geben bestimmten Bevölkerungs- oder Betroffenengruppen die Möglichkeit, Rat bzw. Verwaltung sachkundig zu beraten. Ein ähnliches Beispiel ist das Schöffenwesen. Für die Wahlen der Beteiligten werden Vorschlagslisten durch die Vertretungen der Gemeinden (Schöffen) oder der Verbände und spezialisierten Institutionen (Themenbeiräte) erstellt. --- Doch wer ist Fachmann fürs "Bürgerliche"? Welcher Verband, welche Behörde, welches Kommunalorgan sollte bestimmen, welche Gruppen oder Gruppenmerkmale "relevant" sind, um besondere "Eignung" für einen "Bürgerbeirat" zu signalisieren? So ein Beirat soll Meinungen und Anliegen der Einwohnerinnen und Einwohner Lüneburgs artikulieren. Er ist das Bindeglied zwischen Ortsgemeinschaften auf der einen und Verwaltung und Vertretungen auf der anderen Seite. Das Los allein ist sinnvoll!
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