LGheute im Gespräch mit Michèl Pauly, Fraktionsvorsitzender der Links-Partei im Rat der Stadt Lüneburg
Lüneburg, 16.06.2015 - Eine Abrechnung mit der eigenen Partei – das kommt unter Politikern immer mal wieder vor. In der Regel geschieht es dann, wenn sie beabsichtigen, die Brocken hinzuschmeißen und den Laden zu verlassen. Doch es geht auch anders, wie kürzlich Michèl Pauly, Fraktionsvorsitzender der Links-Partei im Rat der Stadt Lüneburg, vorgemacht hat. Im "Blog.JJ" von Hans-Herbert Jenckel, Landeszeitung, hat Pauly seinem Unmut über den Zustand seiner Partei Luft gemacht: Viel zu lange habe man die Situation der Partei schöngeredet. Seinen Kreisverband bezeichnete er als "Altherren-Folkloregruppe, die auf Parteitagen altertümliche Lieder schief singt" und kritisiert offen, dass seine Partei "zu schwach, zu leise und zu wenige" sei.
Im Gespräch mit LGheute erklärt Michèl Pauly, warum er mit seiner Partei so hart ins Gericht gegangen ist.
LGheute: Herr Pauly, Sie werfen dem Lüneburger Kreisverband öffentlich vor, dass er "ein durch und durch erbärmliches Bild" abgibt und bezeichnen ihn als Altherren-Folkloregruppe, die auf Parteitagen altertümliche Lieder schief singt. Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Warum machen Sie das?
Michèl Pauly: Jede Veränderung beginnt mit der Analyse dessen, was ist. Tatsache ist, dass wir in der Fläche des Landkreises kaum bis gar nicht vertreten sind. Die Mitgliedschaft stagniert auf niedrigem Niveau und insbesondere Erwerbstätige sind stark unterrepräsentiert. Mein Aufruf sollte daher als eine Art Weckruf verstanden werden, an uns selbst als Mitgliedschaft und an alle linksbewegten Menschen. Kernaussage ist: Unsere Idee hat mehr Stärke verdient als wir momentan haben. Doch am Thema Mitgliederentwicklung sind wir weitgehend gescheitert – mich ausdrücklich mit eingeschlossen.
In uns wird viel Vertrauen gesteckt, aber auch hohe Anforderungen gestellt, das merke ich in der Kommunalpolitik. Dem können wir oft nur gerade eben nachkommen – oft genug gehen wir personell auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch. Wenn wir auch künftig alle Ansprüche, die an uns gestellt werden, erfüllen wollen, müssen wir unsere ehrenamtliche Arbeit auf mehr Schultern verteilen können.
LGheute: Wie war die Reaktion Ihrer Partei? Hat man Ihnen schon nahegelegt, das Parteibuch wieder abzugeben?
Michèl Pauly: Überraschend positiv – so richtig übel genommen hat mir den Text niemand, oder man hat es nicht an mich herangetragen. Die einzige Kritik war, dass ich doch hätte erwähnen können, dass wir durchaus auch jüngere Mitglieder haben. Aber mein Gedanke war, es mal etwas schärfer auf den Punkt zu bringen – schöngeredet wird der Zustand der Parteien schon genug.
LGheute: Ihnen persönlich zollen selbst politische Gegner Respekt für Ihren Einsatz und Ihre Sachkenntnis in kommunalpolitischen Themen. Bei Wahlen fährt Ihre Partei regelmäßig gute Ergebnisse ein. Wollen Sie die Wähler künftig davon abhalten, Sie weiterhin zu wählen?
Michèl Pauly: Gewählt werden können wir nur da, wo wir auch aktiv sind und antreten – ob mit eigenen Parteimitgliedern oder interessierten Parteilosen. Daran drohen wir, bei diversen Samtgemeinde- und fast allen Gemeindewahlen zu scheitern. Wir mögen also erwartbar gute Wahlergebnisse haben, stehen aber gar nicht auf dem Wahlzettel. Genau das will ich ändern. Bei den Kommunalwahlen 2016 werden wir, so der heutige Zustand, flächendeckend in der Stadt Lüneburg und im Landkreis antreten. Dort haben wir auch personell noch genug "dahinter“, um dieser Verantwortung auch gerecht werden zu können. Neben der Kommunalpolitik und neben Parlamenten gibt es jedoch auch eine andere Aufgabe von Parteien – die der politischen Bildung. Um auch dem gleichzeitig gerecht werden zu können – dauerhaft –, brauchen wir zumindest so viele "Neue“ wie wir auch an Abgängen aus der Partei haben, sei es durch Wegzug, aus Altersgründen oder aus beruflichen Gründen. Sonst bleiben Themen außerhalb der Kommunen, etwa das Thema Ukraine, Waffenexporte oder Steuerpolitik, irgendwann außen vor. Aber unsere Partei ist ja kein reiner Wahlverein, zu dem vielleicht andere Parteien mutiert sind.
LGheute: Sie sagen, dass es in Lüneburg durchaus gesellschaftliche Bereiche mit dem Potenzial zu einer "alternativen Bewegung" geben mag, beklagen aber, dass diese weder für eine Mitgliedschaft in Ihrer Partei bereit sei, geschweige denn, sich in Ihrer Partei zu engagieren. Wie erklären Sie sich das?
Michèl Pauly: Ich kann es mir nicht so recht erklären und hoffe, durch den Text auch von außen zu erfahren, woran es liegt. Vielleicht wirken wir zu brav, zu bieder oder auch im Gegenteil zu rebellisch und unangepasst. Eventuell wollte uns jemand erreichen und wusste nicht, wie und wo. Was ich beispielsweise gelernt habe und wo ich zu naiv war, die Relevanz zu verstehen: Wenn Sitzungstermine dann sind, wenn Kinder ins Bett gebracht werden müssen, können die meisten Mütter schlichtweg nicht. Also war eine ganz banale Maßnahme, auch andere Büroöffnungszeiten und Sitzungstermine anzubieten.
LGheute: Oder sind Sie für viele vielleicht doch nicht die politische Heimat, die Sie glauben zu sein, sondern letztlich nur eine willkommene Protestpartei?
Michèl Pauly: Für eine reine Protestpartei sind wir bei weitem zu stabil. Man schaue sich die Werte für RRP oder Piraten im Kreis an oder auch die AfD. Da geht es steil aufwärts und ebenso steil abwärts. Wir legen von Wahl zu Wahl etwas zu – daran liegt es also eher nicht.
LGheute: Auch in der Rentner-Partei breitet sich Frust aus, und von den Piraten ist auch nicht mehr viel zu hören. Haben kleine Parteien heute keine Chance mehr?
Michèl Pauly: Die kleinen Parteien haben ein ganz anderes Herangehen an Politik. In der Politikwissenschaft unterscheidet man oft zwischen "Volksparteien“ auf der einen und "Programmparteien“ auf der anderen Seite. CDU und SPD sind Volksparteien, die im Englischen "Catch-All-Parties“ genannt werden. Sie sammeln also Wähler dort ein, wo sie sind, passen sich den Wünschen an. Programmparteien haben den Anspruch, ihre Ideen durchzusetzen, also durch politische Bildung zu verbreiten und so eine vormalige Minderheitenidee mehrheitsfähig zu machen. Das Problem ist jedoch, dass Volksparteien, zu denen die Grünen immer mehr mutieren, es bei Wahlen oft einfacher haben, denn sie haben Chancen auf mehr Parlamentssitze, auf Bürgermeister und damit im Zusammenhang stehende Angestelltenverhältnisse. Diese Erwerbsperspektive haben Mitglieder kleiner Parteien weniger – wir arbeiten aus intrinsischer Motivation. Wer in kleinen Parteien denkt, durch das Parteibuch schnell etwas zu werden, ist auch ganz schnell wieder ausgetreten. Das macht es auch schwieriger, stabile Strukturen zu etablieren. Aber schwierig heißt nicht, unmöglich.
LGheute: Warum haben es die Grünen dann geschafft? Auch sie fingen mal klein an und bilden in Lüneburg heute zusammen mit der SPD die Mehrheitsgruppe.
Michèl Pauly: Die (West-)Grünen sind 1990 aus dem Bundestag geflogen, die Partei war ein Scherbenhaufen, als sie so alt waren wie die Linke heute. Wenn wir das als Vergleich nehmen, stehen wir also noch ganz gut da. So wie die Grünen in Lüneburg will ich übrigens gar nicht werden – sie haben vielleicht gute Wahlergebnisse, ich sehe aber überhaupt nicht, dass etwa im Rat irgendwelche grünen Impulse in der Politik gesetzt werden. Bevor ich so stark und wirkungslos werde wie die Grünen hier, bleibe ich lieber klein, aber wirksam. Vielleicht ist es einfach so, dass eine beliebigere Politik mehr Zuspruch findet als eine programmatische Ausrichtung. Aber in einer Partei mit beliebigem Handeln bräuchte ich auch nicht mitzuarbeiten.
LGheute: Sollte sich nach Ihrer Kritik am Zustand Ihres Kreisverbands nichts ändern, welche Konsequenzen werden Sie dann ziehen?
Michèl Pauly: Gar keine. Ich mache ja auch meinen Genossinnen und Genossen keinen Vorwurf, denn immerhin sind sie aktiv. Den Vorwurf richte ich eher an jene, die Ansprüche für eine andere Politik an uns stellen, aber selbst meinen, mit einem Kreuz alle vier Jahre genug getan zu haben. Zur Veränderung gehört eben auch das Mitmachen.
Ich plane, 2016 wieder für den Rat der Hansestadt Lüneburg für meine Partei zu kandidieren – vorausgesetzt, meine Partei gibt mir erneut das Vertrauen. Dann liegt es bei den Wählerinnen und Wählern, ob ich dann Kommunalpolitik betreiben soll oder ob sie genug von mir haben. Wenn wir so stark abschneiden wie bei der Europawahl oder gar der Oberbürgermeisterwahl, wird die Linksfraktion ab 2016 ein größeres Gewicht im Rat bekommen. Dann wird es aber umso wichtiger, dass Mitglieder und Sympathisanten uns auf die Finger schauen können bei dem, was wir tun – insbesondere für den Fall, dass wir in Einzelfällen ausschlaggebend für Mehrheiten werden. Die dahinterstehende Partei sollte so stark sein, dass sie die eigene Fraktion vom Hof jagen kann, wenn sie gegen die eigene Programmatik handelt und beliebig wird. Nur eines kann ich nicht machen: mein eigener Kontrolleur sein. Das müssen andere übernehmen.
LGheute: Vielen Dank für das Gespräch.