Medikamententod und Hungersterben in Lüneburg

"Euthanasie"-Gedenkstätte schlägt neues Kapitel bei der Ermordung früherer Patienten auf

Im Gebäude des ehemaligen Wasserturms auf dem Gelände der heute Psychiatrischen Klinik Lüneburg ist die "Euthanasie"-Gedenkstätte untergebracht. Foto: LGheuteLüneburg, 05.09.2016 - In der früheren "Kinderfachabteilung" der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt wurden zwischen 1941 und 1945 hunderte Kinder und Jugendliche mit Medikamenten ermordet. Daran gibt es keine Zweifel. Ein bislang unbekanntes Kapitel ist die Ermordung erwachsener Patienten mit Medikamenten und das Hungersterben, das bis weit in das Jahr 1946 andauerte. Auch das gesamte Ausmaß von Zwangssterilisationen an Lüneburgern blieb viele Jahrzehnte unerforscht. Diesen "vergessenen Opfern" widmete sich die diesjährige Gedenkfeier der "Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg, die gestern stattgefunden hat.

In den vergangenen drei Jahren stolperte Dr. Carola Rudnick, wissenschaftliche und pädagogische Leiterin der "Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg, immer wieder über Einzelschicksale der NS-Psychiatrie, die weder den Opfern der "Aktion T4", also der Vergasung von Psychiatriepatienten in Tötungsanstalten, noch den Opfern der Lüneburger Kinderfachabteilung zugeordnet werden konnten. Die Auswertung von Krankenakten erwachsener Patienten legte deren Tötung mit Medikamenten nahe.

Daneben konnte ein ausgeprägtes Hungersterben belegt werden, das weit in die Nachkriegszeit reichte. "Wir müssen davon ausgehen, dass auch erwachsene Patientinnen und Patienten in Lüneburg mit Medikamenten ermordet wurden und sich diese Form des Patientenmordes nicht auf die sogenannte 'Kinderfachabteilung' beschränkte", erläutert Rudnick, "im Vergleich zu anderen Anstalten war die Sterberate in Lüneburg mit rund 20 Prozent ab 1943 und bis zu 27 Prozent im Jahr 1945 überdurchschnittlich hoch, das lässt sich nur durch eine Beteiligung an der sogenannten 'dezentralen Euthanasie' erklären.“

Gemeinsam mit Auszubildenden der Krankenpflegeschule der Psychiatrischen Klinik Lüneburg konnten unter Einbeziehung von Angehörigen drei Lebensgeschichten dieser Opfer rekonstruiert werden. Martha Ossmer aus Bremen kam im Sommer 1944 als 20-Jährige in die Lüneburger Anstalt. Wegen anhaltender Bombenangriffe konnte ihre Mutter sie nicht mehr hinreichend pflegen. Einen Monat später kam Fritz Wehde als 4-Jähriger in die "Kinderfachabteilung". Beide starben nur wenige Monate nach ihrer Ankunft. Martha Ossmer wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Medikamenten ermordet, Fritz Wehde verhungerte, wie es in einer Mitteilung der Gedenkstätte heißt. Heinz Knorr aus Artlenburg erging es nicht anders. Er kam bei Kriegsende in die Anstalt. Weil er nicht sagen konnte, wer er war, blieb seine Herkunft bis zu seinem Hungertod unbekannt. Erst im Frühjahr 2016 identifizierten die Pflegeschüler gemeinsam mit Dr. Rudnick sein ehemaliges Grab auf dem heutigen Friedhof Nord-West, endlich bekam auch die Familie Gewissheit über sein Schicksal.

Welche Geschichten sich mit den Gräbern auf dem Friedhof Nord-West verbinden und wo sich diese Gräber heute noch befinden beziehunsgweise einst gelegen haben, darüber informiert zukünftig eine Informationstafel am Haupteingang des Friedhofs, die die Schüler auf Basis ihrer Recherchen erarbeitet haben. Sie wurde im Rahmen der Gedenkfeier eingeweiht und ist Teil des Erinnerungs- und Gedenktafelprojekts des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Zu den "vergessenen Opfern", die im Zentrum der diesjährigen Gedenkfeier standen, gehören auch Frauen und Männer, die ab 1934 per Gerichtsurteil und gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht wurden.

20 Pflegeschüler des Klinikums Lüneburg deckten anhand von mehr als 1.100 Akten erstmals das gesamte Ausmaß der Zwangssterilisationen auf, die vom Lüneburger Erbgesundheitsgericht ausgingen. Erste Ergebnisse ihrer Nachforschungen zu den Wegen in die Zwangssterilisation, Tatorten, Zwangsabtreibungen und Entschädigungsverfahren nach 1945 wurden gestern als Werkstatt-Ausstellung im Mehrzwecksaal der Psychiatrischen Klinik Lüneburg gezeigt. Eine Sonderausstellung zum Thema "Zwangssterilisation in Lüneburg" ist in Vorbereitung und soll im Januar 2017 eröffnet werden.

An der Gedenkfeier nahmen mehr als 150 Gäste teil, unter ihnen viele Angehörige der verschiedenen Opfergruppen und insbesondere die Angehörigen von Fritz Wehde und Heinz Knorr.

Autorin: Dr. Carola Rudnick